Die Tage seit der für unsere Eliten offenbar schmerzlichen US-Wahl waren sehr lehrreich. Nicht nur, weil die Verrenkungen in den deutschen Mainstream-Medien höchsten Unterhaltungswert besassen (einen schönen Überblick über die ersten Reaktionen boten die Nachdenkseiten). Auch, weil dieser seltene Moment des Interregnums die Möglichkeit schuf, ins Innerste des transatlantischen Verhältnisses zu blicken und zu überprüfen, wer hier wen wohin treibt.
Vielerorts begegnet man der Sicht, die Bundesregierung sei zu bestimmten politischen Positionen gezwungen; ja, manche gingen so weit, von Erpressung zu sprechen. Die Rhetorik einzelner politischer Vertreter (insbesondere die von Steinmeier) schien diese Sicht zu stützen, da immer wieder der Friedenswille betont wurde, und die Beteiligung an der Abfassung von Minsk II den Eindruck erwecken konnte, es gäbe an sich eine Differenz zwischen der bundesdeutschen und der US-amerikanischen Position. Die Bundesregierung würde friedfertiger handeln, wenn sie es denn könne oder dürfe.
Steinmeiers Handeln gab immer Anlass zu Zweifeln. Warum hat er, der ja nun im Namen der BRD die Garantie für die Minsker Vereinbarungen übernommen hat, in der ganzen Zeit kontinuierlich, immer wieder in der Öffentlichkeit Behauptungen aufgestellt, die, wie er wissen musste, diesen Minsker Vereinbarungen widersprachen? Wann immer er zu diesen Vereinbarungen befragt wurde, äußerte er das gleiche Mantra:
Russland müsse dafür sorgen, dass die Ukraine die Kontrolle über die Grenze zurück erhielte.
Die Minsker Vereinbarungen sind in diesem Punkt eindeutig. Sie legen eine Reihenfolge fest. Erst muss, in Übereinkunft mit den Vertretern der Volksrepubliken, die Verfassung der Ukraine geändert und ein Autonomiestatut für diese Regionen festgelegt werden. Zu diesem Paket gehört auch eine weitgehende Amnestie für die Beteiligten in Donezk und Lugansk. Dann finden, abermals auf Grundlage von Übereinkünften, örtliche Wahlen in den beiden Republiken statt. Erst danach erfolgt eine Kontrolle der Grenze zu Russland durch die Ukraine.
Sachartschenko, der juristisch nicht ungebildet ist, hat die Bedeutung dieser Abfolge kurz nach Abschluss der Minsker Vereinbarungen einmal erläutert. Im Grunde ist es einfach: das Autonomiestatut muss mit Zustimmung der beiden Donbassrepubliken formuliert werden. Diese werden keinem Statut zustimmen, dass die Kontrolle über die Grenze zu Russland nicht in die Zuständigkeit der Polizei dieser Autonomiegebiete legt. Sprich, nach dem Text der Minsker Vereinbarungen wäre die Kontrolle über die Grenze zwischen Donezk, Lugansk und Russland de jure in Händen der Ukraine, de facto aber in den Händen der staatlichen Organe der autonomen Regionen.
Steinmeier weiß das. Zumindest sollte man davon ausgehen, dass ein deutscher Außenminister das Abkommen gelesen hat, unter das er seine Unterschrift gesetzt hat. Ein Abkommen, das durch seine Unterstützung durch den UN-Sicherheitsrat in den Rang eines allgemein anerkannten internationalen Vertrages erhoben wurde. Dennoch hat Steinmeier, wann immer er zur Umsetzung dieses Abkommens befragt wurde, offen gelogen. Klar, mit der deutschen Presse kann man das machen, wer merkt sich da schon den Text einer solchen Vereinbarung, aber dennoch – warum diese wiederholten Lügen?
Es ist übrigens nicht nur Steinmeier, der wie eine Sprechpuppe auf das Codewort „Minsk“ hin automatisch die Erwiderung „Grenzkontrolle“ gibt. In der gesamten bundesdeutschen Politik ist der Text der Minsker Vereinbarungen entweder nicht bekannt oder nicht verstanden…
Aber gehen wir zurück zum augenblicklichen Zustand. Und zur oben erwähnten Hypothese, die bundesdeutsche Politik sei zu einer aggressiven Haltung gegen Russland genötigt worden. Wie müssten sich diese Politiker jetzt verhalten, da ein US-Präsident gewählt wurde, der zumindest angekündigt hat, die Konfrontation mit Russland nicht zu suchen (ob er das einhalten kann oder will, steht bekanntlich auf einem anderen Blatt)? Müssten sie jetzt nicht freudig die Gelegenheit nutzen und aufatmend, geradezu befreit zumindest einen Teil der Dinge sagen, die sie vermeintlich die ganze Zeit wollten, aber nicht durften?
Selbst wenn es nur darum ginge, sich Verhandlungsspielraum zu verschaffen, wären einige Bemerkungen gegen die in den letzten beiden Jahren verfolgte Politik sinnvoll.
Stellen wir uns doch einmal vor, was gesagt hätte werden können:
„Wir nehmen den Wunsch des künftigen US-Präsidenten zur Kenntnis, das internationale Engagement der Vereinigten Staaten zurückzufahren und sind verhandlungsbereit, was die Auflösung und Reduzierung der hier vorhandenen Stützpunkte betrifft.“ (Das ist die extreme Schonversion, die schon einmal allen denkbaren Protesten einheimischer Nutzniesser vorbeugt)
„Wir teilen die Auffassung, dass von Russland keine Bedrohung ausgeht, machen unsere Planungen zur Erhöhung des Rüstungsbudgets rückgängig und verwenden das Geld für sinnvollere Dinge.“
„Wir freuen uns, dass die Minsker Vereinbarungen demnächst wirklich umgesetzt werden können.“
„Wir fordern, sämtliche Truppenverlagerungen hin zur russischen Grenze erneut zu überprüfen.“
„Wir erwarten eine Einstellung des Drohnenmordprogramms… Schließung der Airbase Ramstein…“
Diese Liste erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit; sie soll nur dazu dienen, ins Gedächtnis zu rufen, welche Aussagen an sich möglich wären. Mehr noch, welche Aussagen (zumindest ansatzweise) erfolgen müssten, gäbe es tatsächlich die vermutete Differenz zwischen der bisherigen US-Politik und der Bundesregierung (und den deutschen Konzernen, in deren Interesse sie handelt).
Die wirkliche Reaktion sieht aber völlig anders aus. Sie reicht von Bekundungen der persönlichen Abscheu (Sigmar Gabriel) über Ermahnungen, jetzt Russland gegenüber nicht weich zu werden (Flintenuschi) bis hin zu nebulös formulierten Bedingungen für die weitere Zusammenarbeit aus dem Munde Merkels, die sich, wenn man bedenkt, wofür die „Werte“ im Verlauf der letzten Jahre als Chiffre standen (nämlich für Aggression und Regime Change), nicht anders deuten lassen als eine direkte Aufforderung, weiter auf Konfrontation zu setzen.
Nicht einmal die massiven Aufrüstungspläne werden in Frage gestellt. Dabei sollte man immer bedenken, welchem Muster diese Bundeswehr folgen soll. Schon das letzte Weißbuch gab nicht mehr Richtlinien für eine Verteidigungsarmee vor, sondern für eine global agierende kolonialistische Interventionsarmee. Die vorgetäuschte Friedfertigkeit, die gerade Steinmeier gerne wie eine Monstranz vor sich herträgt, verflüchtigt sich schnell, sobald der große transatlantische Bruder auch nur Andeutungen macht, weniger offensiv zu agieren; an ihre Stelle treten sofort Überlegungen, dann müsse eben ‚Europa‘ mehr rüsten und mehr Kriege führen.
Vor zwei Jahren, als Steinmeier vor dem SZ-Wirtschaftsforum eine Rede hielt, in der er Deutschlands Rolle als „Europa anführen, um die Welt anzuführen“ definierte, wurde das nur von einigen wenigen bemerkt. Selbst Volker Kauders Aussage, Europa spräche jetzt Deutsch, tauchte kurz in der Wahrnehmung auf und dann wieder unter. Obwohl besagte Rede von Steinmeier zeigte, dass man sich des Problems einer schwindenden Macht der USA nicht nur bewusst war, sondern sich bereits damals darauf vorbereitete, die erwartete Leerstelle selbst zu besetzen.
Die Redaktion der ZDF-Nachrichtensendung ‚heute‘ fasste Angela Merkels Aussage in der Pressekonferenz zu Obamas Abschiedsbesuch in Berlin in einem twitter zusammen: „Merkel: Deutschland hat von den USA viel Hilfe bekommen. Jetzt ist Deutschland in der Lage, die Ordnung der Welt aufrecht zu halten.“ Sie sagt es einen Hauch vorsichtiger; aber ihre Zuhörer vom Staatsmedium brachten ihre Aussage durchaus zutreffend auf den Punkt.
Andere Staaten reagierten übrigens anders auf die jüngsten Entwicklungen – Australien hat vor einigen Tagen mitgeteilt, man werde doch auf den TPP-Vertrag verzichten und lieber einen mit den Chinesen abschließen, ohne die USA. Die amerikanische Strategie, zumindest den Pazifik als eigenen Machtbereich um jeden Preis zu halten, kann damit auf einen Schlag als gescheitert gelten. Australien ist immerhin nicht irgendwer, sondern ein Mitglied der Five Eyes.
Sprich, andernorts ist Reorientierung angesagt. Dass gerade diese hier und jetzt nicht stattfindet, nicht einmal diskutiert wird; dass, ganz im Gegenteil, der alte Kurs mit größerer Schärfe fortgesetzt wird, auch was die ‚Freihandelsabkommen‘ betrifft (der als künftiger Außenminister gehandelte Schulz hat gerade erst dem Sozial- und Arbeitsausschuss des Europäischen Parlaments zum Thema CETA den Mund verboten), ist jetzt tatsächlich der Beleg dafür, dass dieser Kurs nie ein von außen aufgezwungener war, sondern im Gegenteil womöglich seinen Ursprung hier und nicht oder nur teilweise in den USA hatte.
Die Kriegspartei in den USA scheint keine Einwände gegen einen Aufstieg des Vizeproblems zu haben – die New York Times (immerhin eines der zentralen Propagandablätter) hat vor wenigen Tagen erst erklärt, Merkel könnte „die letzte Verteidigerin des liberalen Westens“ sein. Anders ausgedrückt, die Kriegsfraktion verlegt im Bedarfsfall ihren Hauptsitz von Washington nach Berlin.
Interessant ist vor diesem Hintergrund, dass sich BDM-Jule in der Ukraine wieder zu Wort gemeldet hat. Timoschenko ist immerhin angeblich mit Merkel befreundet; vor dem Putsch wurde sie mit großem Theaterdonner im Rollstuhl in die Charité gekarrt (auch wenn ein davor-danach-Fotovergleich eher für ein Facelifting als für eine Rücken-OP spricht) und galt neben der Sprechpuppe Klitschko als klare deutsche Figur. Dass sie sich von der gerade amtierenden Junta inhaltlich nicht unterscheidet, sondern nur durch die Richtung, aus der die Strippen kommen, an denen sie hängt, hat sie damals in ihrem Kommentar zum Massaker von Odessa bewiesen. „In Odessa konnten wir durchhalten und uns verteidigen, weil Stadtbewohner uns halfen, als eine friedliche proukrainische Demonstration überfallen worden war. Wir konnten auch Verwaltungsgebäude schützen“, so ihre Aussage am Tag nach den Morden. Sollte der Schokokönig in absehbarer Zeit durch BDM-Jule ersetzt werden, gibt es also keinen Grund zu der Annahme, an dem russophoben Kurs der Kiewer Herrschaft, der Unterstützung der Nazibataillone und den Kriegshandlungen gegen den Donbass könnte sich etwas ändern.
Nichts würde sich ändern außer dem Absender der Instruktionen.
So unklar es noch ist, was sich weltpolitisch mit der Präsidentschaft von Trump tatsächlich ändern wird (da ist in der US-Politik immer Vorsicht angebracht, selbst wenn man davon ausgehen kann, dass er für eine andere Fraktion der US-Konzerne steht als Clinton, die einer anderen Strategie folgen), so klar ist in den letzten Tagen geworden, dass wir hier ein Problem haben. Denn eine Bundesregierung mit Großmachtfantasien daran zu hindern, eine breitere globale Blutspur zu hinterlassen oder gar ein weiteres Mal unter dem Titel „am deutschen Wesen soll die Welt genesen“ va banque zu spielen, das ist eindeutig die Aufgabe der deutschen Bevölkerung.
Aber vielleicht hat es auch sein Gutes, dass an dieser Stelle die Maske vom Gesicht gefallen ist. Denn jetzt müssten all jene, die in den letzten beiden Jahren auf alle Proteste gegen die Kriegspolitik mit dem Vorwurf des ‚Antiamerikanismus‘ und der ‚Querfront‘ geantwortet haben und behaupteten, nur sie würden etwas gegen den deutschen Imperialismus tun, brav und eifrig auf die Straße gehen gegen diese deutsche Politik und für eine friedfertige Position Russland gegenüber. Schließlich ist ihr Irrtum inzwischen offenbar, die politische Elite dieses Landes hat ihren Willen bekundet, nötigenfalls ohne die USA die Aggression weiter voranzutreiben (ja, und inzwischen sogar bemerkt, dass dafür ein klitzekleines Detail fehlt und die Forderung nach deutschen Atomwaffen wieder ins Spiel gebracht) und sie damit für jeden erkennbar, ohne jeden Zweifel zur eigenen Sache erklärt.
So widerlich es sein wird, diesem Größenwahn, dieser Hybris weiter folgen zu müssen (und da werden wir noch einiges vor uns haben in den kommenden Monaten), so klärend könnte diese Entwicklung für die politische Atmosphäre Deutschlands sein. Denn der Gegner im eigenen Land zeigt sich jetzt offen, das Versteckspiel im Schatten des großen Bruders ist vorüber, und man kann diesen imperialistischen Kurs entweder teilen oder ablehnen; man ist gegen Aufrüstung und Kriegsvorbereitung oder dafür und damit auf Seiten der deutschen Kriegstreiber oder auf der ihrer Gegner. Es ist nicht länger haltbar, jene, die gegen die Kriegspolitik kämpfen, Nationalisten zu schimpfen; Nationalismus ist das, was Merkel, Schäuble, von der Leyen, Steinmeier betreiben, der Versuch, andere Nationen zu unterwerfen, sei es mit dem Mittel EU oder, wie sie es gerne täten, militärisch. Sich dagegen einzusetzen, dass das eigene Land die Rolle übernimmt, die die USA in den letzten Jahrzehnten weltweit gespielt haben, ist nur im besten Sinne patriotisch.
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